Alle Fotos Pressestelle Jüdisches Museum
Eröffnung: MO | 05.11.2018 | 19:00
Laufzeit: 06.11.2018―01.05.2019
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verzogen in Bayern zahlreiche Jüdinnen und Juden in die Städte oder emigrierten ins Ausland – und viele Landgemeinden drohten somit zu verschwinden. Zurück blieben zum Teil prächtige Synagogenbauten mit kostbaren Ritualgegenständen. Um diese vor dem Verfall zu retten, beauftragte in den 1920er Jahren der Verband Bayerischer Israelitischer Gemeinden den Kunsthistoriker Theodor Harburger (1887―1949), in die Orte zu reisen und die Synagogeninventare zu dokumentieren. Die damals von Harburger fotografierten und beschriebenen Objekte gelten heute entweder als verschollen oder sind in der ganzen Welt verstreut. 80 Jahre nach dem Novemberpogrom, in dessen Zuge Synagogeneinrichtungen geschändet oder beschlagnahmt wurden, besteht kaum noch Hoffnung, verschwundene Ritualgegenstände jemals wiederzufinden und den Nachfahren ihrer ursprünglichen Eigentümerinnen und Eigentümer zurückzugeben.
Vor diesem Hintergrund kam es 2016 im Depot des heutigen Museums für Franken in Würzburg zu einem spektakulären Fund: Das Museum bemüht sich erstmals nach 1945, seine gesamten Bestände zu inventarisieren. Dabei stieß man auf mehrere Kisten mit jüdischen Ritualgegenständen, die zum Teil bis zur Unkenntlichkeit verbrannt oder fragmentiert waren. Bernhard Purin, Direktor des Jüdischen Museums München, konnte diesen Bestand in den vergangenen zwei Jahren aufarbeiten und ― mithilfe der Dokumentation von Theodor Harburger ― zahlreiche Objekte sieben Synagogen in Würzburg und der umliegenden Region zuordnen. Ein Forschungsprojekt in Kooperation mit der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern und gefördert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste ergab, dass etwa ein Drittel der rund 150 Objekte während des Novemberpogroms 1938 in Synagogen beschlagnahmt wurde. Die Quellenlage zeigt: „Sieben Kisten mit jüdischem Material“ wurden im Anschluss an das Museum übergeben.
Die Ausstellung präsentiert erstmals diese geraubten und lange Zeit vergessenen jüdischen Ritualgegenstände ― darunter kostbarer Tora-Schmuck, Chanukka-Leuchter, Seder-Teller und vieles mehr ― und erzählt ihre Geschichten. Den Auftakt auf der ersten Ausstellungsebene bilden vier Objekte, die bereits vor 1933 in die Sammlung des damaligen Fränkischen Luitpold-Museums (heute Museum für Franken) gelangt sind, darunter ein glockenförmiger Kiddusch-Becher von 1730/40, der 1917 im Möbel- und Antiquitätenhaus S. Seligsberger in Würzburg erworben worden war. Ergänzend dazu wird die Zerstörung des Museumsgebäudes und der in ihm gelagerten, im Zuge des Novemberpogroms 1938 beschlagnahmten Ritualgegenstände bei der Bombardierung Würzburgs am 16. März 1945 thematisiert.
Die zum Teil kunsthistorisch sehr wertvollen, geraubten Ritualgegenstände können im Anschluss in sieben hohen Nurglasvitrinen mit individuellen Zuschnitten betrachtet werden. Jede Vitrine steht dabei für einen der sieben unterfränkischen Orte, deren ehemaligen Synagogen die Objekte entstammen: Arnstein, Ebelsbach, Gochsheim, Heidingsfeld, Miltenberg, Schweinfurt und Würzburg. Den Abschluss bildet der freistehende barocke, hölzerne Tora-Schrein, der von der Möbel- und Antiquitätenhändlerfamilie Familie Seligsberger für die 1924 in Würzburg eingerichtete Werktags-Synagoge gestiftet wurde. Ergänzend bietet ein 20 Meter langes Industrieregal Platz für diejenigen Objekte, die bislang unidentifiziert sind, und macht auf diese Weise deren bisherige Lagerung im Museumsdepot erfahrbar.
Anhand von meist hebräischen Inschriften konnten zahlreiche Namen von Stifterinnen und Stiftern ermittelt werden, welche die Objekte ihren damaligen Synagogen schenkten. Auch ihre Biografien, die zum Teil im 18. Jahrhundert beginnen, sowie die ihrer Nachfahren, können in der Ausstellung erfahren werden. Viele der Lebenswege wurden während der Schoa auf grausame Weise beendet.
Einige führten aus Deutschland heraus und in verschiedene Orte der ganzen Welt. Eine von ihnen ist die von Ricka Lehmann, geb. Guggenheim/er (1836–1929), die der Synagoge in Schweinfurt im Jahr 1906 ein Paar Tora-Aufsätze (Kat. Nr. 41) stiftete. Ihr Sohn Norbert wurde am 29. November 1941 ab Nürnberg nach Riga-Jungfernhof, ein Außenlager des Getto Riga, deportiert und ermordet. Ihre Tochter Emmy wurde am 24. März 1942 ab Nürnberg in das Getto Izbica deportiert und später für tot erklärt. Ihr Sohn Michael konnte als einziger im März 1938 mit seiner Familie in die USA emigrieren. Sein Sohn Robert L. Lehman wurde dort 1954 als Rabbiner ordiniert. 1991 besuchte er Schweinfurt im Rahmen des 1200. Geburtstages der Stadt.
Auf der zweiten Ausstellungsebene werden die Besucherinnen und Besucher mit einer großformatigen Abbildung aus der Fotodokumentation der Gestapo zur Deportation der unterfränkischen Jüdinnen und Juden zwischen 1941 und 1943 konfrontiert. In räumlicher Beziehung befindet sich eine Installation mit analog den Vitrinengrundrissen fragmentierten zeitgenössischen Ansichten der sieben Orte.
Zitate von aus den jeweiligen Orten stammenden Juden verdeutlichen ihren Bezug zu den Ritualgegenständen. Die Ausstellung erinnert an sie und ihre Vorfahren – die Menschen der ehemaligen bayerischen Landgemeinden – und an die Objekte, die ihnen damals so kostbar waren.
Eine Ausstellung des Jüdischen Museums München in Zusammenarbeit mit dem Museum für Franken ― Staatliches Museum für Kunst- und Kulturgeschichte, Würzburg, gefördert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, unterstützt von der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern.
Kurator: Bernhard Purin in Zusammenarbeit mit Kerstin Dembsky Ausstellungsarchitektur: Martin Kohlbauer, Wien Ausstellungsgrafik: Haller & Haller, Wien
Jüdisches Museum München, Museum für Franken (Hg.),
„Sieben Kisten mit jüdischem Material“
Von Raub und Wiederentdeckung 1938 bis heute,
Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin Leipzig 2018, 320 Seiten, 29,80 Euro, ISBN: 978-3-95565-276-0.