Heidi in Israel. Eine Spurensuche im Jüdischen Museum München

Konzept: Peter O. Büttner und Peter Polzin  

Kuratorin: Nurit Blatman  

Ausstellungsgestaltung: Roland Seltmann, Promuseo   

 

Heidis Welt sind die Berge, die zum Sehnsuchtsort für unzählige Leserinnen und Leser geworden sind. Die beiden Geschichten «Heidis Lehr- und Wanderjahre» und «Heidi kann brauchen, was es gelernt hat» stammen aus der Feder der Schweizer Autorin Johanna Spyri (1827–1901) und gehören heute weltweit zum kulturellen Gedächtnis. 

 

Johanna Spyri hat „Heidi“ (1880), die letzte große Heimat- und Heimweherzählung Europas geschrieben, die weltweit, und so auch im damaligen Palästina und späteren Israel, die Jugenderinnerungen unzähliger Menschen geprägt hat.  

 

146: Übersetzung ins Hebräische

Die Motive, die in „Heidi“ zur Sprache kommen, waren für viele Leserinnen und Leser von großer emotionaler Bedeutung. 1946 wird Spyris Roman erstmals ins Hebräische übersetzt, zu einer Zeit, in der die Themen Heimat, Heimatverlust und Neubeginn höchst relevant waren. Der Roman gehört seitdem auch in Israel zum Kanon der Kinderliteratur, mit einer vielfältigen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, reich an Übersetzungen, Adaptionen und Neuausgaben. Doch „Heidi“ ist in Israel nicht nur als Buch bekannt. Ob auf der Kinoleinwand, als Theaterstück oder als Hörspiel – das berühmteste Schweizer Mädchen ist Teil der kulturellen Identität und längst auch in den Sozialen Medien angekommen.  

 

Johanna Spyri - Die Schöpferin von Heidi 

Die Schweizer Schriftstellerin Johanna Spyri wird durch ihre beiden «Heidi»-Bücher weltberühmt. Die Bücher werden nach ihrem Erscheinen 1880 und 1881 sofort zum Erfolg. Mit geschätzten 60 Millionen verkauften Exemplaren und in über 70 Sprachen übersetzt, zählt die Geschichte zu den bekanntesten der Welt und gehört auch in Israel seit über 70 Jahren zum Kanon der Kinderliteratur. Ab der dritten Auflage 1881 kommen die ersten illustrierten Ausgaben mit Zeichnungen von Friedrich Wilhelm Pfeiffer (1822–1892) heraus. 1882 erscheinen zeitgleich die ersten Übersetzungen in England, Frankreich, Dänemark, Schweden, Norwegen und in den Niederlanden. Bis zu ihrem Tod erlebte die Autorin Übersetzungen ihrer Bücher in elf Sprachen. Allein in den USA wurden bis 1936 etwa 20 Millionen Exemplare verkauft.   Auch andere Formate, wie Theater und Film, greifen die Geschichte um das Waisenkind Heidi auf, adaptieren sie und machen sie weiter bekannt. Die Ausstellung betrachtet diese Erfolgsgeschichte näher und nimmt die Besucherinnen und Besucher mit auf eine Zeitreise auf Heidis Spuren in Israel.

 

Adaptionen von Heidi

Mit dem Erlöschen der Urheberrechte an Spyris Gesamtwerk 1931 kommen unzählige Übersetzungen und Adaptionen auf den Markt, die in ihrer Gesamtheit kaum mehr zu überblicken sind. Heutzutage wird die Figur vor allem mit der japanischen Trickfilm-Serie assoziiert. Aber auch als Hörspiel, Fernseh- oder Kinofilm findet «Heidi» ihr Publikum – so auch in Israel.

 

Johanna Spyri hat durch ihren Roman maßgeblich das Image der Schweiz im Ausland geprägt und dazu beigetragen, dass die Schweiz weltweit mit «Heidi» in Verbindung gebracht wird.   

 

Heidi ein Waisenkind, ihre Familie 

Johanna Spyri selbst verwendet den Begriff «Waise» in ihrer «Heidi»-Geschichte nicht direkt, während in verschiedenen hebräischen Ausgaben Heidi explizit als «arme» oder «kleine Waise» bezeichnet wird. Auch in Rezensionen, sei es zu neuen Büchern, Filmen oder Theaterstücken, taucht das hebräische Wort für «Waisenkind» regelmäßig auf. Heidi wird von Spyri zwar als Waise gezeichnet, die jedoch nie allein oder einsam ist. Sie besitzt die Fähigkeit, die Welt mit offenen Augen zu betrachten und Menschen in ihr Herz zu schließen, die für sie zur Ersatzfamilie werden.

 

Dieses Bild einer alternativen Familienkonstellation wird im Titel der hebräischen Übersetzungen hervorgehoben: «Heidi Bat HeHarim» bzw. «Bat HaAlpim» bedeutet «Heidi, Tochter der Berge» bzw. «Tochter der Alpen». Der Begriff «Bat» [«Tochter»] weist auf Heidis Fähigkeit hin, Familie neu zu definieren.  

 

Waisenkinder jüdischer Herkunft

In der Nachkriegszeit sind Waisenkinder traurige Realität. In den Jahren 1938 und 1939 beispielsweise konnten tausende Kinder jüdischer Herkunft durch die sogenannten Kindertransporte vor den Nationalsozialisten gerettet werden. Ohne Eltern oder Angehörige haben diese Kinder per Zug oder Schiff ausreisen können. Jüdische Hilfsorganisationen haben möglichst viele von ihnen ins damalige Palästina in Sicherheit gebracht. Sie werden meist in Kibbuzim oder Jugenddörfern untergebracht. Die meisten dieser Kinder sehen ihre Eltern nie wieder und sind oftmals die einzigen Überlebenden ihrer Familien nach der Schoa.  

 

Die junge Israelische Gesellschaft

Die in der Figur «Heidi» angelegte Offenheit und Neugierde spielen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren für die junge israelische Gesellschaft eine wichtige Rolle. Viele Waisenkinder, deren Angehörige ermordet wurden, sind ins Land gekommen und können nun in den Kibbuzim oftmals eine neue Art von Gemeinschaft erfahren. Die hebräisch-sprachige Kinderliteratur in den Anfangsjahren des Staates Israel ist darauf ausgerichtet, ihrer jungen Leserschaft eine zukunftsorientierte und positive Grundeinstellung zum Leben mitzugeben.  

 

Auf der Alp und im Kibbuz 

Natur und landwirtschaftliche Arbeit spielen im politischen Zionismus eine identitätsstiftende Rolle. Idealisiert wird insbesondere das Gemeinschaftsleben im Kibbuz, das als die wünschenswertere Alternative zum «Leben in der Stadt» dargestellt wird. Es steht symbolisch für das zurückgelassene Leben in Europa und damit auch für ein «Leben in der Diaspora».   Von der israelischen Literaturkritik wird «Heidi» als eine «Ode an die Freuden des einfachen Lebens» beschrieben. Ihr Leben in der Natur wird mit dem ländlichen Kibbuz-Leben assoziiert, das als Ideal in der noch jungen israelischen Kinderliteratur oft anzutreffen ist. Doch die Beschreibungen der Natur und der Berge in Spyris Roman bedeuten auch eine Erinnerung an eine verlorene, zurückgelassene Welt. Heidis Welt steht für ein Stück Identität, das vielen Emigrantinnen und Emigranten bei ihrer Flucht aus Europa genommen wurde.   

 

Sprache und Identität 

Das Erlernen des modernen Hebräisch ist ein wesentlicher Bestandteil beim Aufbau einer neuen kulturellen Identität im damaligen Palästina und späteren Israel. Hierbei ist die Kinder- und Jugendliteratur von besonderer Bedeutung. Es entstehen neue Gedichte und Geschichten auf Hebräisch, parallel wird auch viel übersetzt. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Übersetzung und Adaption sogenannter «Klassiker» der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gelegt, um sich einem europäisch geprägten Literaturkanon anzunähern.   Es ist vor allem die junge Generation, die sich in der «neuen Heimatsprache» verständigt, während die eingewanderte Erwachsenengeneration in den ersten Nachkriegsjahrzehnten meist noch die Sprache ihrer Herkunftsländer spricht. Ein Buch wie «Heidi» kann hierbei eine wichtige Hilfestellung bieten, um sich über einen bekannten Stoff der neuen Sprache anzunähern.

 

«Heidi»  «Tochter der Alpen» [«Bat HaAlpim»]

Gerade für Emigrantinnen und Emigranten aus dem deutschsprachigen Europa sind Heidis Alpen eine vertraute Kulturregion. Die erste hebräisch-sprachige Übersetzung scheint sich bewusst an dieses Lesepublikum zu richten: Der Newman-Verlag nennt «Heidi» daher «Tochter der Alpen» [«Bat HaAlpim»] und nicht, wie in späteren Übersetzungen, «Tochter der Berge» [Bat HeHarim»].  

 

Ambivalenzen

«Heidi» wird 1946, ein Jahr nach der Schoa, aus dem Deutschen ins Hebräische übersetzt. Dabei ist das Spannungsgefüge zwischen dem auch sprachlich gekennzeichneten Neuanfang und einer rückgewandten Verbundenheit zur deutschsprachigen Kultur deutlich erkennbar. Einige Namen aus Spyris Roman werden ins Französische übersetzt. Peter heisst Pierre, die Familie Sesemann wird zu Familie Gérard. Nur der Name der strengen Gouvernante Fräulein Rottenmeier wird in der hebräischen Übersetzung nicht abgeändert.   Auch auf der Bühne zeigen sich Unterschiede: In einer Inszenierung aus dem Jahr 1956 wird Heidi nicht ins «graue Frankfurt», sondern ins «sonnige Venedig» gebracht. In späteren Aufführungen wird dann von der «großen Stadt» gesprochen, ohne konkreten Ortsbezug. In den nachfolgenden Jahrzehnten, je weiter die Schoa zurückliegt, nähern sich die Übersetzungen wieder dem Original an, greifen neue mentalitätsgeschichtliche Phänomene und Bezüge auf und bilden so jeweils ihren eigenen Zeitgeist ab.  

 

Heidis Filmdebut 

Bereits vor der ersten offiziellen hebräischen Übersetzung findet «Heidi» im damaligen Palästina ihren Weg ins Rampenlicht. In der US-amerikanischen Verfilmung von 1937 mit dem Kinderstar Shirley Temple als Heidi gewinnt die Romanfigur weltweit noch einmal an Bekanntheit. Der Film läuft zwischen 1938 und 1941 fast durchgehend in den Filmtheatern im damaligen Palästina und wird vom Publikum begeistert aufgenommen. Er wird in der englischen Originalfassung gezeigt und auf Deutsch und Französisch untertitelt.

 

Das «Heidi»-Bild jener Zeit wird vom Film stark beeinflusst. Shirley Temple ist als «Heidi» nicht nur in den Kinos, sondern auch als Radiofassung zu erleben. Da es zu der Zeit noch keine autorisierte hebräische Übersetzung des Romans gibt, wird das Buch in anderen Sprachen gelesen oder sogar eigenständig übersetzt. 

 

Heidi auf Hebräisch 

Mit der aufkommenden «Heidi»-Begeisterung, ausgelöst durch die Shirley Temple-Verfilmung, erscheint 1946 die erste hebräische Übersetzung unter dem Titel «Heidi Bat HaAlpim» [«Heidi, Tochter der Alpen»] beim Newman-Verlag in Tel Aviv. Diese Übersetzung erlebt mindestens sechs Auflagen und ist ein großer Erfolg. Newman verlegt nicht nur Johanna Spyris Kinderbuchklassiker, sondern auch die beliebten Fortsetzungsgeschichten von Charles Tritten. Zudem publizieren weitere Verlagshäuser ihre eigenen, stark gekürzten und farbig bebilderten «Heidi»-Fassungen unter dem Titel.

 

Vorhang auf! 

Zum Chanukkafest 1963 führt Regisseur und Produzent Menachem Golan in einer Neuinszenierung des «Tilon»-Theaters «Heidi Bat HeHarim» [«Heidi, Tochter der Berge»] auf. Sechs Jahre später kommt mit Avraham Lurias «Theater von Oz» das Stück in einer überarbeiteten Fassung erneut auf die Bühne. Im Kino bleibt «Heidi» weiterhin Bestandteil des Spielplanes.

 

«Heidi» gibt es zum Hören, Sehen und Spielen:

Die Geschichte wird auf Schallplatte gepresst, im Radio gesendet und ist von nun an auch im Fernsehen zu sehen; es kommt ein Brettspiel auf den Markt und in den Kindergärten werden eigene Kinderreime erfunden.

 

«Heidis» Präsenz lässt sich auch auf dem Buchmarkt beobachten: Es erscheinen bis in die späten 1960er Jahren immer wieder neue Auflagen der Erstübersetzung aus dem Jahr 1946, die bis dahin die einzige ‹offizielle› Übersetzung des Buches ins Hebräische ist. 1975 erscheint eine neue, sprachlich modernere Übersetzung auf dem israelischen Buchmarkt.  

 

Die Reise geht weiter 

Die Medien entwickeln sich weiter und mit ihnen auch «Heidi». In den 1980er und 1990er Jahren kommen Hörspiel- und Videokassetten heraus. Bekannte Persönlichkeiten der israelischen Unterhaltungskultur werden als Sprecherinnen und Sprecher engagiert, wie Shoshik Shani oder Yossi Banai. Sie prägen mit ihren Stimmen und Interpretationen nachhaltig das Bild von «Heidi» in Israel.  Weitere Verfilmungen und Adaptionen kommen in die Kinos und ins Fernsehen; zudem gibt es neue hebräische Übersetzungen zu kaufen.

 

Insbesondere die noch heute bekannte Übersetzung von Shlomo Nitzan aus dem Jahr 1983 wird von vielen Kindern in der damaligen Zeit gelesen. Ein vierseitiges Malbuch stellt die wohl kürzeste Version der Geschichte dar, während andere Ausgaben zusätzliche Informationen zur Autorin und der Schweiz vermitteln. 

 

Zum Klassiker der Kinderliteratur 

Heute ist «Heidi» aus dem israelischen Film- und Literaturkanon nicht mehr wegzudenken. Seit der Jahrtausendwende sind weitere populäre Adaptionen und Lizenzausgaben für den israelischen Buchmarkt produziert worden. Bereits bekannte Hörspiel- und VHS-Kassetten werden als CD und DVD neu herausgegeben. Auch auf der Bühne geht es für den Klassiker der Kinderliteratur weiter: 2001, 2014 und 2020 wird «Heidi» als Familienmusical aufgeführt. Ebenso findet die Figur in der Tagespresse regelmäßig Erwähnung. Vor allem in Reiseberichten und Tourismus-Anzeigen wird gerne auf die Erzählung von Johanna Spyri zurückgegriffen. Dabei gehen die stereotypen Bilder und Bezüge weit über die Schweiz und die Alpen hinaus.  

 

Heidi in den Social Media

Auf Social Media-Plattformen, wie Facebook oder Instagram, wo sich Nutzerinnen und Nutzer als Heidi inszenieren oder die Thematik assoziativ aufgreifen, wird die Bezeichnung «Heidi Bat HeHarim» [«Heidi, Tochter der Berge»] als Beschreibung oder Kommentar gerne genutzt. In all ihren Spielarten und Facetten ist die «Tochter der Berge» im kulturellen Gedächtnis heute in Israel tief verwurzelt und bleibt dank der vielfältigen Rezeption stets aktuell. Die neueste hebräische Übersetzung von Hanna Livnat aus dem Jahr 2020 schreibt diese Erfolgsgeschichte fort.

Matthias Mühling, Direktor des Lenbachhauses bei der Eröffnung der William Turner Ausstellung 2023, Foto: Beate Obermann copyright
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